Strategien für mehr Umweltgerechtigkeit. Handlungsfelder für Forschung, Politik und Praxis

Auszüge aus dem Original: 

Umweltgerechtigkeit

Arme Menschen leben in Deutschland häufiger in einer gesundheitsbelastenden Umwelt als andere Bevölkerungsgruppen. Diese These stellt das Autorinnenteam um Claudia Hornberg auf. Es stützt sich dabei unter anderem auf Ergebnisse des Kinder-Umwelt-Surveys (KUS). Diese zeigen, dass Schadstoffbelastungen im Wohninnenraum eine potenzielle Gesundheitsgefahr darstellen.

Begriffsfindung

In ihrer Arbeit verwenden die Autorinnen den erweiterten Umweltbegriff der Public-Health-Perspektive. Dieser integriert neben der natürlichen und anthropogen veränderten Umwelt auch die sozial-kulturelle sowie die ökonomische Umwelt in ihrer Bedeutung für Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität.

Mit der Public-Health-Definition des Umweltbegriffs rücken einerseits alle Umweltbedingungen und Lebensbereiche in den Blick, die als Ressourcen potentiell die Gesundheit fördern und erhalten. Andererseits können mit dieser Definition Umweltbedingungen auch als gesundheitliche Risiken wirken. Danach ist die Umweltqualität unterschiedlicher Lebensbereiche (z.B. Wohnen, Arbeiten, Freizeiteinrichtungen, Gesundheitswesen und Verkehrsmittel) ein entscheidender Faktor für körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen.

Im Rahmen der Umweltgerechtigkeitsdebatte liegt der Fokus der Public-Health-Perspektive überwiegend auf der privaten Lebensumwelt der Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel auf Wohnungsausstattung, Belastungen durch Verkehr und Gewerbe sowie auf Verfügbarkeit von Grün- und Freiräumen und anderen Infrastrukturen im Wohnumfeld.

Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen anthropogenen chemisch-physikalischen Umweltbelastungen, Beeinträchtigungen und Verfügbarkeit von natürlichen Umweltressourcen sowie ökonomische und psychosoziale Benachteiligungen treten im Kontext Wohnen besonders zutage und werden zu zentralen Kriterien der Umwelt(un)gerechtigkeit.

Public-Health vs. Umweltmedizin

Im Gegensatz zum Public-Health-Ansatz bezieht sich die Umweltmedizinische Perspektive eher auf die Gesundheit bzw. Krankheit einzelner Personen. Zudem verfolgt sie eher einen pathogenetischen denn einen salutogenetischen Ansatz.

In ihrer Definition von „Umwelt“ klammert Umweltmedizin die ökonomische und sozial-kulturelle Umwelt aus. Folglich sieht sie den Einfluss von ökonomischen und psychosozialen Ungerechtigkeiten auf die Gesundheit als sehr gering an (von Mühlendahl, 2009).

Kommunikationsdefizite

Die Autorinnen diagnostizieren Schwächen in der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis. In einer Befragung von Akteuren, die mit Umweltthemen befasst sind, stellten die Autorinnen fest, dass das Thema Umweltgerechtigkeit noch wenig oder gar nicht bearbeitet wird. So ist mehr als der Hälfte der befragten Umweltämter der Begriff der Umweltgerechtigkeit nicht bekannt. Als Konsequenz hieraus fordern die Autorinnen eine verständliche Terminologie. Sie solle möglichst wenig Spielraum für kontroverse Auslegungen bieten und an Alltagserfahrungen anschließen. Alternativ zum Begriff der Umweltgerechtigkeit schlagen die Autorinnen die Trias Umwelt, Gesundheit und soziale Lage vor.

Die Organisationen (wie z.B. das Netzwerk Kindergesundheit und Umwelt), die sich bereits mit Umweltgerechtigkeit befassen, sehen Handlungsbedarf vor allem für Großstädte mit räumlich verdichteten Innenstadtteilen und in verwahrlosten Wohnquartieren. Als Zielgruppen für Interventionen wurden in der Befragung sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit geringen finanziellen Möglichkeiten und Bildungsdefiziten genannt. Im Einzelnen sind dies alte und behinderte Menschen, Migranten mit wenig Außenkontakten, Kinder und Jugendliche sowie Alleinerziehende. Ziel sei es, keine sozialen Brennpunkte entstehen zu lassen.

Wissenschaftliche Evidenz

Die Arbeit zur Umweltgerechtigkeit ist der Kritik einer mangelnden soliden wissenschaftlichen Evidenz ausgesetzt. Um zukünftige Handlungsstrategien zur Vermeidung von Umweltbelastungen und Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten auf sichere wissenschaftliche Grundlagen zu stellen, wünschen sich die Autorinnen untern anderem: 

  • Die Weiterentwicklung des Human-Biomonitorings. Mit dieser Methode kann die tatsächliche Belastung des Körpers mit Umweltstoffen festgestellt werden. Hornberg et al. möchten die Ergebnisse mit sozialen Faktoren korreliert sehen.
  • Eine Berücksichtigung kumulierender Expositionen. Ob und wie unterschiedliche, gemeinsam auftretende Expositionen sich in ihrer Wirkung verstärken oder abschwächen, wird seit einiger Zeit verstärkt in Fachkreisen diskutiert.
  • Eine gesundheitsbezogene Risikobewertung der sozialen und räumlichen Unterschiede in der Umweltqualität. So soll dargestellt werden, wie stark Umwelt und soziale Lage Einfluss auf die Gesundheit nehmen.

Umsetzung der Forschungsergebnisse in Handlungsfelder

Innenraumluft und Umwelthygiene

Die Ergebnisse des Kinder-Umwelt-Survey (KUS) des Umweltbundesamtes (UBA) (Schulz, et al., 2010) zeigen, dass Schadstoffbelastungen im Wohninnenraum ein potentielles Gesundheitsrisiko darstellen. Ein wichtiger Faktor ist hier der vergleichsweise hohe Tabakkonsum in sozial schlechter gestellten Gruppen.

Auch Energiearmut, die eng mit innenraumhygienischen Problemen assoziiert ist, stellt besonders für sozial benachteiligte Menschen ein Problem dar. Eine weitere Verteuerung der Energiepreise, ohne dass kompensatorische Ausgleiche einkommensschwachen Hauhalten beistehen, veranlasst die Nutzer zu mangelndem Heizen und Lüften. Das führt insbesondere in Mietwohnungen mit minderwertiger Bausubstanz zu Feuchteschäden und Schimmelpilzbefall.
Als wichtiges Beispiel für den Übertrag der Forschungserkenntnisse in Handlungsansätze in der Praxis nennt das Autorinnenteam um Hornberg et al. das im Jahr 2010 beendete UBA-Verbändeprojekt „Umweltgerechtigkeit – von Geburt an“. (Women in Europe for a Common Future (WECF), 2011). Die wichtigsten Säulen dieses Projektes sind:

  • Entwicklung und Verbreitung zielgruppenspezifischer Informationsmaterialien
  • Beratungsangebote für junge Familien mit kleinen Kindern – vor allem für Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf und
  • Schulung von Multiplikatoren (z. B. Hebammen).

Perspektiven

Im Schlusskapitel des Buches fordern die Autorinnen die Instrumente der Gesundheitsberichterstattung und Raumbeobachtungssysteme für die Erforschung des Themenfeldes „Umwelt, Gesundheit und soziale Lage“ zu nutzen. Zudem gäbe es genügend Kommunikations- und Partizipationskonzepte zur Eindämmung der gesundheitlichen Folgen.

Neben der Reduzierung vorhandener Expositionsquellen gelte es, dem sozioökonomischen Ursachengefüge in benachteiligten und benachteiligenden Lebenslagen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die unterschiedliche Betroffenheit von Expositionen mit Umweltstoffen und umweltbedingten Gesundheitsbelastungen müsse in ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet werden.

Die Autorinnen lenken mit ihrem Buch den Blick auf den gesundheitswissenschaftlich wichtigen Aspekt der sozialen Benachteiligung in der umweltmedizinischen Diskussion. Sie nutzen vorhandene Ergebnisse und entwickeln Handlungsperspektiven, wie die Umweltverhältnisse und die Lebensqualität der Bevölkerungsgruppen insgesamt verbessert werden könne.

Stabile Lebensversverhältnisse und Teilhabe bilden die Voraussetzung für eine nachhaltige Wirkung gesundheitsbezogener Präventionsstrategien. Hierfür muss das Themenfeld „Umwelt, Gesundheit und soziale Lage“ Einzug in den umweltmedizinischen und politischen Diskurs finden. Das Buch liefert dazu wichtige Impulse.

Literatur: 

Hornberg, C., & Pauli, A. (2009). Umweltgerechtigkeit - auch ein Thema in Deutschland? Kommentar zum Beitrag von Prof. Karl Ernst von Mühlendahl. Umweltmedizin in Forschung und Praxis , 14 (1), 46-51.

Hornberg, C., Bunge, C., & Pauli, A. (2011). Strategien für mehr Umweltgerechtigkeit. Handlungsfelder für Forschung, Politik und Praxis. Bielefeld: Kock.

Schulz, C., Ulrich, D., Pick-Fuß, H., Seiwert, M., Conrad, A., Brenske, K.-R., et al. (2010). Kinder-Umwelt-Survey (KUS) 2003/06: Innenraumluft – Flüchtige organische Verbindungen in der Innenraumluft in Haushalten mit Kindern in Deutschland.

von Mühlendahl, K. E. (2009). Umweltgerechtigkeit - auch ein Thema für Deutschland? Umweltmedizin in Forschung und Praxis , 14 (1), 45-46.

WECF (2011) : “Umweltgerechtigkeit von Geburt an" (Environmental justice right from the beginning). Aufgerufen am 2. Januar 2012 von www.wecf.eu

Veröffentlicht: 3. Januar 2012 - 0:00 Uhr

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