Autismus, Asperger-Syndrom und Umwelt
Vor 20 Jahren wurde in einem Artikel im Lancet (der renommiertesten medizinischen Fachzeitschrift) nahegelegt, dass Impfungen für die Entstehung von Autismus (Autism Spectrum Diseases, ASD) verantwortlich seien.
Diese Veröffentlichung hatte auf einer Fälschung beruht und wurde später zurückgezogen. Der Autor Wakefield hatte aus finanziellen Gründen Forschungsergebnisse „produziert“; es ging um Entschädigungszahlungen von Impfstoffherstellern.
Damals rückten Spekulationen über Umweltfaktoren in den Fokus der Aufmerksamkeit von Ärzten und Betroffenen: Impfungen, Quecksilber, Bakterien, „Umweltgifte“ … usw.
Sicheres Wissen über die Genetik
Für die Entstehung von ASD ist die Vererbung, sind die Gene von prägender Bedeutung. Auf Grund der Analyse von über tausend Familien mit mehreren Betroffenen und von sehr zahlreichen Familien, in denen Einzelfälle vorgekommen waren, weiß man:
- Jungen und Männer sind etwa dreimal so häufig betroffen wie Mädchen und Frauen.
- In Familien mit mehreren Fällen von ASD ist, wenn weitere Kinder kommen, fast die Hälfte aller Jungen betroffen, aber nur jede fünfte Tochter.
- Bei eineiigen Zwillingen findet sich eine Übereinstimmung (Konkordanz) bei fast allen männlichen Paaren (96%), aber nur bei 85% der Mädchen-Zwillingspaare.
- Bei zweieiigen Zwillingen ist die Konkordanz geringer: ca. 60% bei Jungen, 20% bei Mädchen.
Diese Zahlen zeigen, wie wichtig die Genetik ist, die Vererbung von Eltern auf die Kinder, und auch die nicht unerhebliche Zahl von Neumutationen. Der Geschlechtsunterschied deutet auf eine größere Empfindlichkeit (Suszeptibilität) der Jungen hin, vielleicht auch auf Schutzfaktoren, die nur die Mädchen haben (im englischsprachigen Schrifttum female protective effect, FPE).
Geschlechterverhältnis bei ASD | Jungen : Mädchen 3-4:1 | |
Risiko für das Auftreten von ASD bei weiteren Kindern in Familien mit bereits mindestens zwei ASD Fällen | Jungen Mädchen |
50% 20% |
Konkordanz bei eineiigen Zwillingspaaren | Jungen Mädchen |
96% 85% |
Konkordanz bei zweieigen Zwillingspaaren | Jungen Mädchen |
60% 20% |
Genetische Erkenntnisse, die die Knabenwendigkeit und die Tatsache, dass auch Umweltfaktoren eine erhebliche Rolle spielen müssen, aufzeigen.
Unwissen, Spekulationen, Hypothesen hinsichtlich möglicher Umweltfaktoren
Es müssen neben der Genetik andere Einflüsse eine Rolle spielen, denn beispielsweise sind nicht immer beide eineiigen Zwillinge betroffen, obwohl sie identische Chromosomensätze haben. So sind sicherlich auch epigenetische Faktoren von Bedeutung. Als Epigenetik werden Prozesse bezeichnet, die Gene aktivieren oder ruhigstellen, „ein- oder abschalten“.
Dabei dürften Umweltfaktoren eine Rolle spielen, die bei empfindlichen (suszeptiblen, genetisch prädisponierten) Embryonen, Feten und Kindern wirksam werden.
Spekuliert wird über Ernährung, Diabetes, prae- und perinatalen Stress, Pharmaka (z.B. Valproat, Analgetika), Pestizide, „Umweltgifte“, Infektionen, Zinkmangel, Alter der Eltern. Wie solche Faktoren wirken könnten, ist weitgehend unbekannt, vorgeburtlich oder während des späteren Lebens, durch Modifikation von Rezeptoren, über sog. oxidativen Stress, um einige Denkansätze aufzuzeigen.
Spielen männliche Hormone wie das Testosteron eine Rolle, vielleicht in der vorgeburtlichen Entwicklung? Oder sog. „Umweltchemikalien“, die z.T. Hormonrezeptoren blockieren oder aktivieren können (sog. Endokrine Disruptoren, englisch endocrine disruptors, ED)?
Bei funktionellen Kernspintomographie (NMR)-Untersuchungen werden bei ASD-Personen bei manchen Versuchsanordnungen in bestimmten Hirnarealen andere Aktivierungen beobachtet als bei nicht betroffenen Versuchspersonen. Gibt es fehlende neuronale Verknüpfungen, die zum ASD führen? Es wird über Spiegelneuronen nachgedacht, womit ein System von speziellen Nervenzellen und deren Verknüpfung beschrieben wird, das bei Beobachtung von anderen Menschen in gleicher Weise aktiviert wird (Mitgefühl, Mitleid). Sie werden als zelluläre und funktionelle Basis vermutet für intuitives Verstehen dessen, was andere Menschen fühlen. In diesem Bereich haben Menschen mit ASD offensichtliche Defizite.
Für die Richtigkeit all dieser Überlegungen gibt es bislang keine schlüssigen Belege oder Beweise, allenfalls Hinweise, und über hypothetische Annahmen hinaus ist die Wissenschaft bis heute noch nicht wirklich gelangt. Hinsichtlich mancher Vermutungen gibt es sogar gewichtige Gegenargumente, so dazu, was die Bedeutung männlicher Hormone oder das System der Spiegelneuronen betrifft.
Insoweit kennen wir heute nur einen Teil der einen Hälfte (der Genetik) dessen, was für die Entstehung von den verschiedenen Ausprägungen von Autismus und Asperger Syndrom von Bedeutung ist; Erkenntnisse bezüglich der anderen Hälfte, der Umwelt, sind sehr zahlreich und alle kaum wirklich überzeugend bewiesen.
Märchen, Aberglaube
Gut erzählte Geschichten, Märchen, Fabeln sind eingängig, besonders, wenn sie vorhandene Anschauungen bestätigen. Die Wakefield-Fälschung wird auch heute noch weitererzählt und von denen geglaubt, in deren Weltbild sie hineinpasst.
Stand: 1. August 2017 - 12:35 Uhr
Autor/en:
Grafik oben rechts (Kinder): © Hannelore Louis / pixelio.de.